Auf Anregung des Hamburger Komponisten und Organisten Andreas Willscher, der mich um kurze ca. zweiminütige Orgelstücke für Gottesdienste bat, schrieb ich im Jahr 2000 Mystischen Betrachtungen für Orgel nach Sinnsprüchen aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ (Tsch.: Cherubský poutník)von Angelus Silesius (Johannes Scheffler). Die sieben kurzen Stücke können einzeln im Gottesdienst gespielt werden oder als Zyklus konzertant zur Aufführung gelangen. Im Jahre 2001 ergänzte ich diesen Zyklus um einen Teil II mit weiteren sieben Stücken von etwas größerem Umfang.
Angelus Silesius wurde als Johannes Scheffler 1624 in Breslau geboren, wo er auch 1677 starb. Sein Vater war der protestantische polnische Edelmann Stenzel Scheffler, seine deutsche Mutter war Maria Magdalena, geb. Hennemann, eine Tochter des Breslauer Hofarztes Dr. Johann Hennemann.
Scheffler besuchte das Elisabeth-Gymnasium in Breslau und studierte an den Universitäten in Straßburg, Leyden und Padua, wo er zum „Doctor philosphiae et medicinae“ promovierte.
1953 vollzog Scheffler öffentlich seine Konversion zur katholischen Kirche. Dabei nahm er den Namen Johannes Angelus an. Seine Schriften erschienen nunmehr unter dem Namen Angelus Silesius (= Schlesischer Bote). 1661 wurde er in Neisse zum Priester geweiht und wirkte nun als „ein gelehrter und Geistlicher Arzt“.
Schon früh war Angelus Silesius mit bedeutenden Mystikern seiner Zeit (Jakob Böhme, Abraham von Franckenberg, Daniel Czepko von Reigersfeld und Johann Theodor von Tschesch) entweder über deren Schriften oder persönlich in Kontakt gekommen.
1657 erscheint in Wien erstmals sein Cherubinischer Wandersmann, eine Sammlung von „Geistreichen Sinn- und Schlußreimen. Mit diesen Epigrammen wollte Scheffler weniger vom Scharfsinn ihres Autors Zeugnis ablegen, sondern von ihrem wahren Urheber.
Sie wollen „Anstoß erregen und zur Umkehr bewegen“ (Louise Gnädiger). Mit dem Beiwort „Cherubinisch“ weist Scheffler darauf hin, daß seine Sinnsprüche in der christlichen Erkenntnis- und Wesensmystik des göttlichen Schauens, Sehens und der inneren Erfahrung von Leben, Tod und Ewigkeit stehen.
Im gleichen Jahr 2001 fand beim Festival Europäischer Kirchenmusik Schwäbisch Gmünd ein Wettbewerb „Zeitgenössische Musik im Gottesdienst“ für ein Chorwerk zum Thema Licht statt, an dem ich mich beteiligte. Ich machte mir nicht die geringste Hoffnung, dass ich dabei irgendeinen Preis gewinnen könnte, nahm das aber für mich selbst zum Anlass meine ganze Kunstfertigkeit aufzuwenden, um etwas Überzeugendes und Gültiges in die Welt zu setzen.
Wieder griff ich deshalb zu Texten von Angelus Silesius, die mich schon seit meiner Studentenzeit immer wieder beschäftigten und die schon Inspirationsquelle für meine Mystischen Betrachtungen für Orgel waren.
Was Angelus Silesius zum Thema Licht im Cherubinischen Wandersmann zu sagen hatte, war von einer ungeheueren Kraft und Einmaligkeit, dass mich dies bei der Arbeit mit großem Schwung davontrug. Das Licht der Lichter wurde zwar wieder keine „regulierte Kirchenmusik“, aber ich glaubte, dass das siebenteilige Werk bei verschiedenen Anlässen seinen Platz würde finden können, sei es geschlossen z. B. im Rahmen einer geistlichen Abendmusik oder eines Konzerts oder jeder Sinnspruch für sich allein im liturgischen Rahmen.
Einen Preis bekam ich natürlich nicht, aber mir wurde für die Teilnahme an dem Wettbewerb gedankt. Den ersten Teil hat dann schon am 1. März 2002 Dietmar Gräf mit seinem Chor in Bad Wörishofen aufgeführt. Die Uraufführung des kompletten Werkes konnte ich dann selbst in der vom Kommunismus zur Ruine gemachten St. Barbara-Kapelle in Mährisch-Weißkichen/Hranice machen, auf dem Gelände jener berühmten Kaserne, in der der Weltmeister Emil Zatopek einst sein Training absolvierte.
Einstudiert habe ich das Stück bei der 11. Böltener Singwoche/XI. ročníku Bělotínského týdne zpěvu in Mährisch-Weißkirchen/Hranice mit ca. 100 fast durchwegs tschechischen Teilnehmern, die überwiegend atheistisch erzogen und aufgewachsen waren, aber bereit waren, sich auf diese Texte und meine Vertonung einzulassen und sich von Probe zu Probe intensiver und engagierter dafür einsetzten. In dem Abschlusskonzert haben wir dann eine rundum überzeugende und wunderbare Aufführung zuwege gebracht, über die ich sehr glücklich war.
Lukáš Petřvalský schrieb in der Dezember-Nummer 2003 der Zeitschrift HARMONIE u.a.: [...] Německý skladatel Widmar Hader zvolil pro své poslední dílo – cyklus sborů na texty Angela Silesia Světlo světel (Das Licht der Lichter) – ve většině jeho částí přísný polyfonický styl, který se odvolává na období vrcholné vokální polyfonie. Jeho hudební jazyk stojí na průzračném zvuku kvartové harmonie, což ve spojení s kontrapunktickou fakturou dává dílu klidný a neokázalý charakter a čistotu výrazu. Haderovo uvažování není čistě horizontální, bere též v úvahu vertikální průběh hudebního proudu, nicméně primární je u něj zachování autonomie jednotlivých hlasových pásem polyfonické věty. [...] “
Übersetzung aus dem Tschechischen: Der deutsche Komponist Widmar Hader wählte für sein letztes Werk – einen Chorzyklus nach Texten von Angelus Silesius „Světlo světel (Das Licht der Lichter)“ – in dessen überwiegenden Teilen einen strengen polyphonen Stil, der sich an der Blütezeit der Vokalpolyphonie orientiert. Seine musikalische Sprache besteht aus klaren Klängen der Quartenharmonik, was in Verbindung mit einer kontrapunktischen Faktur dem Werk einen ruhigen und unprätentiösen Charakter und Klarheit des Ausdrucks gibt. Haders Denken ist nicht rein horizontal, er berücksichtigt auch vertikale musikalische Strömungen, desungeachtet ist primär die Autonomie der einzelnen Stimmen im polyphonen Verlauf des Satzes beibehalten . [...] “ Lukáš Petřvalský in: HARMONIE 2003/12.
Zwei weitere kleineMotetten sind übrigens speziell für der Chorfestival von Bölten/Bělotín (Nordmähren ) enstanden:
Zum einen ist dies Dulcis et rectus (Graduale für das Fest des allerheiligsten Herzens Jesu [am Freitag nach der Oktav des Fronleichnamsfestes]) für Frauen- oder Männerchor a cappella (1997), das Martin Wenning mit dem Frauenchor der VI. Singwoche Bölten/ Bělotín am 22. August 1997 in der St. Barbara-Kirche in Mährisch Weißkirchen/Hranice uraufführte.
Zum anderen ist dies die Motette Lignum habet spem (Hoffnung hat der Baum) für gemischten Chor, die ich für das Chorfestival in Bölten/Belotin im August 2001schrieb. Der vertonte lateinische Text und seine deutsche und tschechische Übersetzung lauten:
Lignum habet spem: si praecisum fuerit, rursum virescit, et rami ejus pullulant. (Hoffnung bleibt dem Baum: Wenn er ward schon abgehaun, grünet er wieder und seine Zweige sprießen neu.
Dort war dann aber nicht genügend Zeit, das Stück noch einzustudieren, deshalb fand die Uraufführung erst zwei Jahre später am 8. Februar 2003 durch die Vokaletta Regensburg unter Leitung von Hans Pritschet in der Ev. Kreuzkirche in Bad Abbach statt. Da ahnte ich noch nicht, dass Bad Abbach gute drei Jahre später zu meinem Alters-Ruhesitz werden sollte.
Das Münchener Ensemble Chrismós unter Leitung von Alexander Hermann, für das ich 2000 schon einmal ein Chorwerk Mortales geschrieben hatte, war es auch, das die Anregung für den weiteren Ausbau der Angelus-Silesius-Vertonungen bis hin zum abendfüllenden Projekt bewirkte.
Zusammen mit der bildenden Künstlerin Karin Fleischer planten wir im Rahmen des Projektes ZwischenZeiten, Bewegungen zwischen Künsten und Zeiten (Musik, Kunst, Tanz) für den Mai 2003 eine Veranstaltung mit dem Titel Licht der Lichter. Diese sollte ganz im Zeichen von Angelus Silesius stehen. Dabei machte mich Alexander Herrmann auf CantaSigno, den Jungen Gebärdenchor der Ev. Gehörlosenjugend Bayern aufmerksam, der von Alexandra Ziegler geleitet wurde.
Ich war von der Idee, diesen Gebärdenchor einzubeziehen sehr begeistert, weil ich noch gut in Erinnerung hatte, einen derartigen Gebärdenchor schon einmal in Brünn erlebt zu haben, der dort zu Musik agiert hatte. Wir haben deshalb bei Alexandra Ziegler angefragt, und sie sagte zu.
So komponiert ich für CantaSigno und das Ensemble Chrismós ein spezielles Werk mit dem Titel Des Schöpfers Ruh, wiederum auf Texte von Angelus Silesius, in der Besetzung gemischter Chor, 2 Schlagzeuger und Orgel. Eine erste Veranstaltung fand aber zunächst noch ohne Gebärdenchor in Kirchheim/Teck statt, das Wolfgang Znaimer organisierte, der dort auch Bilder ausstellte, die er zu meinen Silesius Vertonungen gemalt hatte. Die zwei kompletten Aufführungen inclusive Gebärdenchor und den Zeichnungen von Karin Fleischer waren dann am 24. Mai 2003 in St. Ursula in München und in der St. Vituskirche in Regensburg. Das Regensburger Konzert wurde vom Bayerischen Rundfunk mitgeschnitten.
Beide Chorwerke, also Des Schöpfers Ruh und Das Licht der Lichter, wurden außerdem nach dieser Aufnahme am 12. Juli 2003 noch dreimal von CantoSigno beim Tollwood Festival im Münchne Olympiapark dargeboten, wobei das Bayerische Fernsehen eine Aufnahme machte, die am 19. Juni 2003 in der Sendung SEHEN STATT HÖREN bundesweit in sämtlichen dritten Fernsehprogrammen ausgestrahlt wurde.
Eine weitere Besonderheit lag sicher darin, dass zwei Bildende Künstler durch meine Musik in Verbindung mit Angelus Silesius in unterschiedlicher Art in außerordentliche eindrucksvoller Weise zu künstlerischer Gestaltung angeregt wurden.
Während der aus Zlabings/Slavonice stammende Wolfgang Znaimer in Mischtechnik mit leuchtenden Farben in kräftigen Strichen und klaren Formen die Gestimmtheiten der Texte in seinen Bilden einfing, ging Karin Fleischer mit ihren Grafiken, die während der Aufführungen hinter einem Vorhang entstanden, einen anderen Weg, den sie so beschrieb:
„Kunst macht sichtbar. – Wie sich Komposition und Grafik aufeinander beziehen.
Der Komponist läßt sich von seinem Sujet zu Strukturen inspirieren, die solche Klangbewegungen tragen können, die imstande sind, den Geist des Sujets auszudrücken.
Der Maler hat die Inspiration durch die aufgeführte Komposition, ja durch den gesamten Wirkungskomplex einer Life-Aufführung. Diese Wahrnehmung berührt – und provoziert zur Transformation in die eigene Sprachwelt der Grafik. Mit sparsamen Mitteln wird die Begegnung aufgezeichnet. Die Linie als Seismograph, der weiße Raum des Papiers steht für den inneren Kosmos.
Es geht nicht um programmatische Begleitung, nicht um minutiöse Genauigkeit oder ein quasi-„naturalistisches“ Portrait.
Es wird vielmehr eine umfassende Wirklichkeit aufgezeichnet:
Der Geist der Musik findet grafische Form;
Eine den Komponisten, den Dichter und das Leben verbindende Essenz bekommt über den Maler sichtbare Gestalt;
Die innere Gesetzmäßigkeit, eine Grundstruktur, die Lebenserfahrung, Musik und bildende Kunst miteinander verbindet, zeigt sich im Bild. Kunst macht sichtbar.“
Ich selbst schrieb dazu Folgendes:
„Allgemeine Prinzipien, Was Sprache, Kunst, Musik und Bewegung verbindet.
Die Musik ist eine Kunst, die mit den ihr eigenen Mitteln arbeitet, und aus sich selbst heraus ihre Wirkung entfaltet.
Mit Klang-„farben“ malt die Musik, und man spricht von Tongemälden, sie weckt Stimmungen und Konnotationen,
Linien und Rhythmen bestimmen das Geschehen, die in Neumen und Noten bis hin zur Space-Notation und grafischen Verläufen aufgeschrieben optisch dargestellt, nach-„gezeichnet“ werden.
Ihre Strukturen werden in Partituren wie in einem Zeit–Tonhöhen–Diagramm nachvollziehbar gemacht.
Wenn sich die Künste mit ihren jeweiligen Ausdrucksformen aufeinander einlassen und miteinander verbinden wie in dem Projekt ZWISCHENZEITEN werden in besonderer Weise die allgemeinen Prinzipien einsichtig, die allen Künsten zugrunde liegen.
Karin Fleischer findet in ihren abstrakten Zeichnungen und Tuschen archaische Grundformen, die durch die Musik vermittelt wurden und oft in erstaunlicher Weise sogar bis ins Notenbild eine gewisse Entsprechung finden
Die Sinusbewegung in der Tusche „Beständigkeit“ findet sich wieder in den musikalischen Linien des Notenbildes von „Die Sanftmut ist ein Samt“.
Ebenso entspricht der Ausdruck der Tusche „Lebendigkeit“ der kontrapunktischen Verknüpfung zwischen der sprühenden Ober- und der entfachenden Unterstimme in der Komposition „Gott wirket wie das Feuer“.
Interessanterweise finden wir die Ineinanderwindung von Ober – und Unterstimme mit der Gleichzeitigkeit einer Drehfigur und ihrer Vergrößerung im Bass umgesetzt in der gleich betitelten Tusche „Hoffnung“.
Ganz offensichtlich ist auch die formale Nähe des Notenbildes von „Der Anfang findt das End“ mit seinen nahezu geschlossenen Rundungen. Die dazu entstandene Tusche „Zusage“ macht hier eine Grundstruktur sichtbar, die sich durch die ganze Komposition zieht.
Mit der Gebärdenpoesie des Ensembles „CantaSigno“ wiederum wurde aus der Gebärdensprache eine neue Kunstform geschaffen die konkrete Inhalte ästethisch überhöht. Dabei wurde deutlich wie sehr die Umsetzung in Gebärdenpoesie mit meiner Musik korrespondierte, die ebenfalls stark vom Gestischen geprägt ist.“
Widmar Hader
composer /Germany/